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Die Hugenotten

Die Hugenottenkriege in Frankreich im 16. Jh.

Lange Zeit war unklar, ob Frankreichs Krone katholisch bleiben, oder protestantisch werden würde. Der Calvinismus gewann unter den französischen Adel eine große Anhängerschaft (ca. 40-50%) und zog die Mittelschicht der Kaufleute und der Gewerbetreibenden mit sich. Doch am Ende mussten die französischen Protestanten zwischen erzwungener „Katholisierung” oder Exil ihre Wahl treffen. 1561 wurde ein Religionsgespräch in Poissy bei Paris abgehalten. Dort kam es zur Konfrontation zwischen den Katholiken, geführt vom zuständigem Kardinal von Paris, de Touron und den Anhängern Calvins, geführt von Theodor Beza. Dieses Ereignis war einer der Hauptgründe für den Ausbruch der Hugenottenkriege im Jahre 1562, die, abgesehen von kleinen Unterbrechungen bis 1629 andauern sollten. Allein 3.000 Protestantenführer wurden Opfer der sie überraschenden Bartholomäusnacht (Pariser Bluthochzeit) im Jahre 1572. Heinrich von Navarra, ein treuer Anhänger Calvins (König1589-1610), behauptete gegen seine Konkurrenz den Thron, indem er sich vom Calvinismus lossagte und zum Katholizismus konvertierte. Am 15. April 1598 erließ er das Edikt von Nantes, das einigen hohen Adligen und den Bürgern bestimmter Städte und Dörfer die Freiheit zur Ausübung der reformierten Religion gewährte. In den drei Jahrzehnten wurde Ludwig XIV. (König 1643-1715) als Monarch von Kardinal Mazarin beherrscht. Am 18. Oktober 1685 unterzeichnete er das Edikt von Fortainebleau, mit dem das Edikt von Nantes widerrufen wurde. Diese Aufhebung bildete einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Europas. In Frankreich brachte sie, die seit langem schwelende Krise des absolutistischen Staates zum offenen Ausbruch und schaltete den Protestantismus als Faktor des gesellschaftlichen und politischen Lebens für lange Zeit fast vollständig aus. Nach der Aufhebung der Religionsfreiheit verließen mehr als 200.000 Familien das Land.

Die Flucht der Hugenotten 16.-18. Jh.

Als am22. Oktober 1685 der Kabinettsbefehl König Ludwig XIV. vorn 18. Oktober verkündet wurde, setzte schlagartig die Zerstörung der protestantischen Kirchen ein. Die unter Heinrich IV. gewonnenen und
verbrieften Rechte wurden ihnen ebenfalls entzogen. Ihre Kinder wurden ihnen weggenommen und zwangsweise römisch-katholisch unterrichtet. Durch die Dragonaden (königliche Dragonerregimenter) wurden ihre Häuser angegriffen und keine von ihren Pfarrern vorgenommene Ehe hatte rechtlichen Status. Viele hugenottische Familien verließen panikartig das Land. Die Flucht bedeutete Entwurzelung, Strapazen und Existenzverlust. Diejenigen, die in Frankreich blieben, sahen sich immer brutaleren Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt. Abgesehen von der Gefahr ermordet zu werden – eine Gefahr, die mit jedem Jahr der Herrschaft Ludwigs XIV, wuchs -, wurde der politische und wirtschaftliche Lebensraum ständig eingeengt. Aus naheliegenden Gründen verwischten die Hugenotten auf der Flucht ihre Spuren. Aufzeichnungen haben nur wenige hinterlassen. Aktenkundig wurden die, die man entdeckt oder verraten hatte. Bei ihren Führern, den „Guides”, fanden sich außer falschen Pässen, Zettel mit Wegrouten, Hinweise auf Vertrauensleute, Herbergen, Übernachtungsmöglichkeiten und Personen, die Briefe weiterleiteten. Montpellier und Nimes dienten als Treffpunkte, wo die Flüchtlinge Hilfe, Tipps und Nachrichten vorfanden, ebenso wie sie in Lyon Unterstützung, auch bei ausländischen, insbesondere deutschen Arbeitern fanden. England, die Niederlande, Zürich, Genf, Preußen und Hessen öffneten den französischen Flüchtlingen ihre Pforten.

Die hessischen Freiheitskonzile

Die Grundlagen der hessischen Einwanderungspolitik wurden von Landgraf Karl I. (1677-1730) mit der Veröffentlichung mehrerer Erlasse und Privilegien geschaffen. Der erste Erlass, die „Fryheits-Concession und Begnadigung”, nur in deutscher Sprache wurde am 18. April 1685, also vor der Aufhebung des Ediktes von Nantes, abgefasst. Er bewilligte ihnen zehn Jahre Steuerfreiheit, befreite sie von Zollabgaben und sorgte dafür, dass französische Handwerker und Meister nicht den deutschen Zunftzwängen unterlagen. Der Landgraf ließ den französischen Flüchtlingen die Wahl zwischen sieben Städten, um sich dort niederzulassen und Manufakturen einzurichten. Er verpflichtete sich zudem, jeweils einen Prediger und einen Schulmeister französischer Sprache pro Stadt zu unterhalten.
Der zweite Erlass, veröffentlicht am 1.August 1685, erbrachte keine großen Änderungen. Da er sich dieses Mal an Personen, die sehr reich an Vermögen und Gewerbe waren, richtete, privilegierte der Landgraf die damalige Residenzstadt Kassel als Niederlassungsort.
Der dritte Erlass vom 12. Dezember 1685, die „Concessions et Privileges”, der ausschließlich in Französisch verfasst war, wandte sich an alle diejenigen, die sich in seinem Staate niederlassen wollten, um dort Manufakturen zu betreiben oder betreiben zu lassen, die es dort nicht gab und andere nützliche und notwendige Künste, Handwerke und Gewerbezweige zu erschließen.
Die drei Erlasse legten also die Richtlinien der Einwanderungspolitik des Landesfürsten zu Hessen-Kassel fest. Es handelte sich um eine Einwanderung von beruflich qualifizierten Personen, die auf wichtigen Handelspunkten, den Städten angesiedelt wurden. Der Landgraf hatte die Absicht, die Hugenotten als eine dynamisch – wirtschaftliche Innovationskraft zu nutzen, um den Wiederaufbau seines Landes, das immer noch unter den Folgen des 30jährigen Krieges litt, zu beschleunigen. Es reichte aber nicht Erlasse zu veröffentlichen, um die Flüchtlinge nach Hessen zu bekommen, sie mussten bekannt gemacht werden. Der Landgraf setzte Agenten und Werber ein, die diese Aufgabe an den Sammelpunkten und in den Durchzugsgebieten der Hugenotten, vor allem in der Schweiz und Frankfurt am Main, übernahmen und die Refugies (Name für französische Flüchtlinge) in seinem Namen anwarben.
Die Reise der Flüchtlinge vollzog sich in „Brigaden”, d.h. in kleinen Gruppen mit einem Anführer, meistens einem Pfarrer. Der Ort ihrer Abreise befand sich in der Regel auf Schweizer Gebiet, dem größten Sammelbecken der Flüchtlinge. Von dort aus führte der Weg über Frankfurt, der zweiten Drehscheibe des hugenottischen Exils. Von dort aus wurde der Weg nach Kassel zu Fuß zurückgelegt.
Der in Kassel ankommende Flüchtlingsstrom nahm solche Ausmaße an, dass die gesamte Stadt einem überfüllten Aufnahmelager glich. Es wurde Zeit, die einwandernde Bevölkerung zu kanalisieren. Zu diesem Zweck wurde 1686 eine Kommission eingesetzt, deren Aufgabe es war, das Inventar der verlassenen und verfügbaren Orte zu erstellen. Da die Ernennung einiger Flüchtlingskommissare nicht ausreichte, um die ihnen anvertraute Aufgabe zu erfüllen, wurde eine französische Kanzlei als offizielles Vermittlungsorgan zwischen den Kolonisten und dem Landgrafen geschaffen. Später wurde aus ihr eine eigene Verwaltung für Gebiets- und Behördenangelegenheiten; allerdings war bei allen Entscheidungen der Landgraf die letzte Instanz. Als Justizbehörde und Berufungsinstanz (allein für die Städte) wachte sie nicht nur über die Anwendung der erlassenen Privilegien, sondern gleichermaßen auch über die Versorgung und materielle Ausstattung der „Refugies”. Um nicht alle Unterstützung allein zu tragen, appellierte der Landgraf zugleich an das christliche Mitgefühl seiner Untertanen und organisierte eine Sammlung zugunsten der neuen Mitbürger.
Der Landgraf hatte demnach eine sehr selektierte Einwanderungspolitik konzipiert und Strukturen für die Aufnahme der ankommenden Bevölkerung geschaffen. Aber die weitersteigende Zahl von Flüchtigen und die ersten Probleme des Zusammenwachsens in der Oberneustadt von Kassel, die eigens für die Hugenotten gegründet worden war, bewog ihn dazu, seine Einwanderungspolitik zu überdenken. Das ursprüngliche Vorhaben wurde auch durch die Anzahl und die „mittelmäßige Qualifikation” der Refugies in Frage gestellt. Landgraf Karl musste über andere und neue Formen als die der städtischen Kolonisation nachdenken, in erster Linie über eine ländliche Kolonisation.

Koloniegründung auf dem Lande

Etwa ein Drittel der hugenottischen Kolonien wurde in städtischen Siedlungen angelegt. Die anderen Ansiedlungen – insgesamt 27- wurden auf dem Land gegründet. Die Ackerbürgerstadt Hofgeismar, die im 30jährigen Krieg einen erheblichen Bevölkerungsschwund erlitten hatte, wurde zum Zentrum der ländlichen Ansiedlung im Niederfürstentum. Mit der Einwanderung von drei Brigaden von ca. 300 Hugenotten konnten in den ersten Monaten des Jahres 1686 die Menschenverluste ausgeglichen werden. Die Ansiedlung der protestantischen Flüchtlinge vollzog sich nicht ohne Probleme und Widerstände. Die eingesessenen Hessen sahen sich durch die Privilegierung der Hugenotten in ihren Existenzmöglichkeiten bedroht. Unterstützung gab es meist nur von der landgräflichen Behörde, die ebenfalls auf Kritik und Neid stieß.
Weitere Schwierigkeiten für die Neusiedler folgten aus den fehlenden Möglichkeiten, eine gesicherte wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Für die Gründung erfolgreicher Handelsunternehmen und Manufakturen fehlte das Kapital. Die Landwirte, vorwiegend Waldenser, aus den französischen Alpentälern stammend, erhielten nicht genug Acker- und Weideland. Hinzukommend herrschte in einigen Kolonien sogar Wasserknappheit.
Trotz aller Missstände wurde schon im Einwanderungsjahr 1686 ein neues Dorf in der Hofgeismarer Gemarkung (3 km östlich von der Kernstadt) gegründet; es erhielt nach dem Landgrafen Karl den Namen Carlsdorf. Der aus Metz geflüchtete Hocharchitekt Jean Paul du Ry hatte den Bauplan des Dorfes entworfen. Es dauerte Jahre und Jahrzehnte, bevor die Neusiedler aus eigener Kraft für ihren Lebensunterhalt sorgen konnten.
Am Rande des Reinhardswaldes, 9 km südöstlich von Hofgeismar und an der Stelle mittelalterlicher Siedlungen wurde 1687, ein Jahr nach Carlsdorf, die Kolonie Mariendorf gegründet. Sie wurde analog zu Carlsdorf nach der Landgräfin Maria Amalia Mariendorf benannt.
Die zweite und dritte Koloniegründung in der großen Hofgeismarer Feldmark steht direkt im Zusammenhang mit der zweiten hugenottischen Einwanderungswelle nach Hessen-Kassel im Jahre 1699. Viele der 1685/86 aus Frankreich und dem Herzogtum Savoyen stammenden Refugies hatten zunächst auf günstigere politische Verhältnisse in die Heimat gehofft. Mit dem Friedensschluss von Rijswijk im Jahr 1697 zwischen Ludwig XIV. und seinen Gegnern zerschlugen sich alle Hoffnungen auf eine freie Religionsausübung der Protestanten in Frankreich. Jetzt versuchten auch die Schweizer Kantone und Städte mittels diplomatischer Verhandlungen und finanzieller Vorleistungen, einen Teil der, in der überbevölkerten Schweiz untergebrachten Hugenotten an deutsche Territorien weiterzugeben. Die Landgrafschaft Hessen-Kassel übernahm ein erhebliches Kontingent. Wieder wurde Hofgeismar von Flüchtlingsbrigaden angesteuert. Wie bei der ersten Flüchtlingswelle fanden die zum großen Teil mittellosen Refugies eine erste Bleibe und Unterstützung in der Stadt selbst. Diesmal plante die landgräfliche Behörde die Neuanlage von zwei Kolonien, Kelze und Schöneberg.
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Quelle: Berndt, Gabriele: 300 Jahre Hugenottendorf Kelze 1699 – 1999 : … wie lebten sie damals … ; … wie leben wir heute . …